Als Mykobakteriophagen werden informell (nicht-taxonomisch) Viren bezeichnet, deren spezifischer Wirt zur Bakterien-Gattung der Mycobacterium (Mykobakterien) gehört. Da diese Wirtsgattung Mitglied der Klasse Actinobacteria (Aktinobakterien) ist, werden diese Viren allgemeiner als Aktinobakteriophagen oder ganz allgemein als Bakteriophagen (kurz Phagen) klassifiziert.[3]

„Mycobacteriophage ZoeJ“ (Gattung Timquatrovirus, Morphotyp Siphoviren)[1] – Struktur­modell mit atomarer Auflösung[2]

Die ersten Mykobakteriophagen wurden aus den Bakterienspezies Mycobacterium smegmatis und Mycobacterium tuberculosis (alias Tuberkelbazillus, Erreger der Tuberkulose), isoliert.[4] Seitdem wurden mehr als 11.500 Mykobakteriophagen(stämme) aus verschiedenen klinischen Quellen und in der Umwelt isoliert, von diesen wurden 2.047 vollständig sequenziert (Stand 2. Oktober 2021).[3] Mykobakteriophagen sind wichtige Beispiele für lysogene Viren (speziell Phagen) und für die unterschiedliche Morphologie und Genomstrukturen, wie sie für eine ganze Reihe von Phagentypen charakteristisch sind.[5] Alle bisher gefundenen Mykobakteriophagen haben jedoch ein Doppelstrang-DNA-Genom und wurden aufgrund ihrer Struktur und ihres Aussehens vom Morphotyp als Siphoviren oder Myoviren klassifiziert. Sie gehören damit zur großen Klasse Caudoviricetes der Viren mit Kopf-Schwanz-Aufbau.[6]

Entdeckung

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Das erste dokumentierte Beispiel eines Mykobakteriophagen ist ein 1946 isoliertes und 1947 beschriebenes Virus, das Mycobacterium smegmatis infiziert (Gardner & Weiser). Dieser (nicht näher bezeichnete) Phage wurde in Kulturen dieser Bakterien gefunden, die ursprünglich aus Proben von feuchtem Kompost isoliert worden waren.[7][8] Der erste Bakteriophage, der M. tuberculosis infiziert, wurde 1954 entdeckt (Froman et al.: „Mycobacterium-Phage D32“, vorgeschlagen[9]). Dieser Phage infiziert M. tuberculosis H37Rv (daneben auch M. smegmatis mc²155 und ATCC 607).[10][11] Im gleichen Jahr wurde auch Mycobacterium-Phage D29 (alias Jinga3000 oder Lakes) von Froman et al. beschrieben, infiziert aber M. smegmatis mc²155.[12][13][14][15]

Diversität

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Allein zu dem Wirtsstamms, Mycobacterium smegmatis mc²155 (auch mc2155 oder MC2 155 geschrieben) wurden über elftausend Mykobakterophagenstämme isoliert, von denen über 2.000 vollständig sequenziert wurden (Stand 2. Oktober 2021).[3] Diese stammen zumeist aus Umweltproben; Mykobakteriophagen wurden aber auch aus Stuhlproben von Tuberkulosepatienten isoliert,[16] die allerdings erst noch sequenziert werden müssen (Stand März 2014).[17] In einer Clusteranalyse der Genomsequenzen wurden etwa 30 verschiedene Typen oder „Cluster“ identifiziert, zwischen denen nur eine geringe Nukleotidsequenzähnlichkeit besteht – Ausreißer unter den Clustern mit nur einem Mitglied ohne Verwandten werden dabei auch „Singletons“ genannt. Viele der Cluster weisen eine so große Vielfalt auf, dass eine Unterteilung der Genome in Subcluster gerechtfertigt ist.[17]

Auch der Gesamtgehalt an den Nukleinbasen Guanin und Cytosin (GC-Gehalt) variiert beträchtlich, von 50,3 — 70,0 %, mit einem Durchschnitt von etwa 64 %; beim Wirtsbakterium M. smegmatis beträgt dieser 67,3 %. Der GC-Gehalt des Phagen muss also nicht unbedingt mit dem seines Wirts übereinstimmen; die daraus resultierende Unterschiedlichkeit der Codon-Nutzungsprofile scheint nicht von Nachteil zu sein. Da immer noch neue Mykobakteriophagen ohne große DNA-Ähnlichkeit mit der bestehenden Sammlung entdeckt werden, und da es mindestens sieben Singletons gibt, für die keine Verwandten isoliert wurden, ist die Vielfalt dieser speziellen Population noch lange nicht vollständig bekannt.[17]

Der Gesamtumfang von mehr als 50.000 Genen kann anhand ihrer gemeinsamen Aminosäuresequenzen in mehr als 3.900 Gruppen von Phagenproteinfamilien (so genannten „Phamilien“, englisch phamilies) eingeteilt werden. Die meisten dieser Phamilien (~75 %) haben keine Homologe außerhalb der Mykobakteriophagen und sind von unbekannter Funktion. Genetische Studien mit dem Mykobakteriophagen Giles[18][19] zeigen, dass 45 % der Gene für das lytische Wachstum nicht essentiell sind.[20]

 
Diversität der Mykobakteriophagen. Die sequenzierten Genome von 471 Mykobakteriophagen wurden anhand ihres gemeinsamen Geninhalts und ihrer allgemeinen Nukleotidsequenzähnlichkeit in einer Clusteranalyse verglichen. Die farbigen Kreise umfassen die angegebenen Cluster A-T, während die grauen Kreise Singletons ohne nahen Verwandte darstellen. A1, A2, A3… bezeichnen Subcluster. Die mikroskopischen Auf­nahmen zeigen die Morphotypen der myoviralen Phagen des Clusters C, die anderen sind alle von siphoviraler Morphologie – der Unterschied besteht vor allem in der Schwanzlänge: Cluster C hat myovirale, alle anderen Cluster dagegen siphovirale Morphologie (Balken 100 nm). Alle untersuchten Phagen infizieren M. smegmatis mc²155, nur Phage DS6A[21][22] infiziert M. tuberculosis H37Rv,[23] und auch Cluster K und ein Teil von Cluster A infiziert diese Wirtsspezies.
Aus Hatfull (2014).[17]

Wirtsspektrum

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Die Analyse des Wirtsspektrums zeigt, dass nicht alle Mykobakteriophagen von M. smegmatis mc²155 auch andere Stämme (oder gar Spezies) infizieren und dass nur Phage DS6A, die Phagen in Cluster K und in bestimmten Subclustern von A dagegen M. tuberculosis effizient infizieren. Allerdings können von einigen Phagen leicht Mutanten isoliert werden, die ihr Wirtsspektrum erweitern, um andere Stämme zu infizieren. Die molekulare Grundlage der Wirtsspezifität ist jedoch weitgehend unbekannt (Stand 2012/2014).[24][17]

Das erste sequenzierte Genom eines Mykobakteriophagen war das des Mykobakteriophagen L5[25][26] im Jahr 1993.[27] In den folgenden Jahren wurden Hunderte von weiteren Genomen sequenziert.[3] Mykobakteriophagen haben stark mosaikartige Genome. Ihre Genomsequenzen weisen auf einen umfangreichen horizontalen Gentransfer hin, sowohl zwischen Phagen untereinander als auch zwischen Phagen und ihren mykobakteriellen Wirten. Vergleiche dieser Sequenzen haben dazu beigetragen, zu erklären, wie häufig ein solcher genetischer Austausch in der Natur vorkommen kann und wie Phagen zur Pathogenität ihrer Wirtsbakterien beitragen können.[14]

Im Jahr 2009 wurden die Genome einer Auswahl von 60 isolierten Mykobakteriophagen sequenziert. Diese Genomsequenzen wurden mit verschiedenen Methoden zu Clustern zusammengefasst, um Ähnlichkeiten zwischen den Phagen festzustellen und ihre genetische Vielfalt zu untersuchen. Mehr als die Hälfte der Phagenarten wurde ursprünglich in oder in der Nähe von Pittsburgh, Pennsylvania, gefunden, die anderen in anderen Orten der Vereinigten Staaten, in Indien und Japan. In den Genomen der Mykobakteriophagen-Spezies verschiedener globaler Herkunft wurden dabei keine deutlichen Unterschiede festgestellt. Es wurde zudem festgestellt, dass die Genome von Mykobakteriophagen eine Untergruppe von Genen enthalten, die einem schnelleren genetischen Fluss unterliegen als andere Elemente der Genome. Diese sog. Rapid-Flux-Gene werden häufiger zwischen Mykobakteriophagen ausgetauscht und sind in ihrer Sequenz 50 % kürzer als ein durchschnittliches Mykobakteriophagen-Gen.[28]

Anwendungen

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In der Vergangenheit wurden Mykobakteriophagen zur „Typisierung“ (d. h. „Diagnose“) von Mykobakterien verwendet, da jeder Phage nur einen oder wenige Bakterienstämme (ein und derselben Spezies) infiziert.[29] In den 1980er Jahren wurden Phagen als Werkzeuge zur genetischen Manipulation ihrer Wirte entdeckt.[30] Beispielsweise wurde der Phage TM4[31][32] zur Konstruktion von Shuttle-Phasmiden verwendet, die sich als große Cosmide in Escherichia coli und als Phagen in Mykobakterien replizieren. Shuttle-Phasmide können in E. coli manipuliert und zum effizienten Einschleusen fremder DNA in Mykobakterien verwendet werden.[33] Vermutlich können Mykobakteriophagen für das Verständnis und die Bekämpfung von Mykobakterieninfektionen beim Menschen besonders nützlich sein. Es wurde ein System entwickelt, mit dem solche Phagen, mit einem Reportergen ausgestattet, zum Screening von Stämmen von M. tuberculosis auf Antibiotikaresistenz eingesetzt werden können.[34] In Zukunft könnten Mykobakteriophagen zur Behandlung von Infektionen per Phagentherapie eingesetzt werden.[35][8]

Siehe auch

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Einzelnachweise

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  1. NCBI: Mycobacterium phage ZoeJ (species)
  2. Victor Padilla-Sanchez: Mycobacteriophage ZoeJ Structural Model at Atomic Resolution. In: OpenAire. 24. Juli 2021, doi:10.5281/zenodo.5132914 (Online [abgerufen am 2. Oktober 2021]).
  3. a b c d PhagesDb: The Actinobacteriophage Database. phagesdb.org, abgerufen am 2. Oktober 2021.
  4. E. Mankiewicz: Mycobacteriophages isolated from Persons with Tuberculous and Non-tuberculous Conditions. In: Nature. Band 191, Nr. 4796, 30. September 1961, S. 1416–1417, doi:10.1038/1911416b0, PMID 14469307, bibcode:1961Natur.191.1416M.
  5. Graham F. Hatfull: Mycobacteriophages: Genes and Genomes. In: Annual Review of Microbiology. Band 64, Nr. 1, 13. Oktober 2010, S. 331–356, doi:10.1146/annurev.micro.112408.134233, PMID 20528690.
  6. Welkin H. Pope, Deborah Jacobs-Sera, Daniel A. Russell, Craig L. Peebles, Zein Al-Atrache, Turi A. Alcoser, Lisa M. Alexander, Matthew B. Alfano, Samantha T. Alford, Nichols E. Amy, Marie D. Anderson, Alexander G. Anderson, Andrew A. S. Ang, Graham F. Hatfull et al: Expanding the diversity of mycobacteriophages: insights into genome architecture and evolution. In: PLOS ONE. Band 6, Nr. 1, 27. Januar 2011, S. e16329, doi:10.1371/journal.pone.0016329, PMID 21298013, PMC 3029335 (freier Volltext), bibcode:2011PLoSO...616329P.
  7. Grace M. Gardner, Russell S. Weiser: A Bacteriophage for Mycobacterium smegmatis. In: Proceedings of the Society for Experimental Biology and Medicine. Band 66, Nr. 1, 1. Oktober 1947, S. 205–206, doi:10.3181/00379727-66-16037, PMID 20270730.
  8. a b Ruth McNerney, Hamidou Traoré: Mycobacteriophage and their application to disease control. In: J. Appl. Microbiol. Band 99, Nr. 2, 16. Juni 2005, S. 223–233, doi:10.1111/j.1365-2672.2005.02596.x, PMID 16033452.
  9. NCBI: Mycobacterium phage D32 (species)
  10. Seymour Froman, Drake W. Will, Emil Bogen: Bacteriophage active against virulent Mycobacterium tuberculosis. I. Isolation and activity. In: Am J Public Health Nations Health. Band 44, Nr. 10, Oktober 1954, S. 1326–1333, doi:10.2105/AJPH.44.10.1326, PMID 13197609, PMC 1620761 (freier Volltext). Epub 29. August 2011.
  11. PhagesDb: Mycobacterium phage D32
  12. ICTV: ICTV Taxonomy history: Mycobacterium virus D29
  13. NCBI: Mycobacterium virus D29 (species, alias Mycobacteriophage D29)
  14. a b Marisa L. Pedulla, Michael E. Ford, Jennifer M. Houtz, William R. Jacobs Jr., Roger W. Hendrix, Graham F. Hatfull et al.: Origins of Highly Mosaic Mycobacteriophage Genomes. In: Cell. Band 113, Nr. 2, 18. April 2003, S. 171–182, doi:10.1016/S0092-8674(03)00233-2, PMID 12705866.
  15. PhagesDb: Mycobacterium phage D29
  16. J. C. Cater, W. B. Redmond: Mycobacterial phages isolated from stool specimens of patients with pulmonary disease. In: The American Review of Respiratory Disease. Band 87, Mai 1963, S. 726–729, PMID 14019331.
  17. a b c d e Graham F. Hatfull: Mycobacteriophages: Windows into tuberculosis. In: PLOS Pathogens. Band 10, Nr. 3, 20. März 2014, S. e1003953, doi:10.1371/journal.ppat.1003953, PMID 24651299, PMC 3961340 (freier Volltext).
  18. ICTV: ICTV Taxonomy history: Mycobacterium virus Giles
  19. NCBI: Mycobacterium phage Giles (no rank)
  20. Rebekah M. Dedrick, Laura J. Marinelli, Gerald L. Newton, Kit Pogliano, Joseph Pogliano, Graham F. Hatfull: Functional requirements for bacteriophage growth: Gene essentiality and expression in mycobacteriophage Giles. In: Molecular Microbiology. Band 88, Nr. 3, 8. April 2013, S. 577–589, doi:10.1111/mmi.12210, PMID 23560716, PMC 3641587 (freier Volltext).
  21. ICTV: ICTV Taxonomy history: Mycobacterium virus DS6A
  22. NCBI: Mycobacterium phage DS6A (no rank)
  23. PhagesDB: Mycobacterium phage DS6A
  24. Deborah Jacobs-Sera, Laura J. Marinelli, Charles Bowman, Gregory W. Broussard, Carlos Guerrero Bustamante, Michelle M. Boyle, Zaritza O. Petrova, Rebekah M. Dedrick, Welkin H. Pope, Robert L. Modlin, Roger W. Hendrix, Graham F. Hatfull et al.: On the nature of mycobacteriophage diversity and host preference. In: Virology. Band 434, Nr. 2, 20. Dezember 2012, S. 187–201, doi:10.1016/j.virol.2012.09.026, PMID 23084079, PMC 3518647 (freier Volltext).
  25. ICTV: ICTV Taxonomy history: Mycobacterium virus L5
  26. NCBI: Mycobacterium virus L5 (species, alias Mycobacteriophage L5)
  27. Graham F. Hatfull, Gary J. Sarkis: DNA sequence, structure and gene expression of mycobacteriophage L5: A phage system for mycobacterial genetics. In: Molecular Microbiology. Band 7, Nr. 3, Februar 1993, S. 395–405, doi:10.1111/j.1365-2958.1993.tb01131.x, PMID 8459766.
  28. Graham F. Hatfull, Deborah Jacobs-Sera, Jeffrey G. Lawrence, Welkin H. Pope, Daniel A. Russell, Ching-Chung Ko, Rebecca J. Weber, Manisha C. Patel, Katherine L. Germane, Robert H. Edgar, Roger W. Hendrix et al.: Comparative Genomic Analysis of 60 Mycobacteriophage Genomes: Genome Clustering, Gene Acquisition, and Gene Size. In: Journal of Molecular Biology. Band 397, Nr. 1, 19. März 2010, S. 119–143, doi:10.1016/j.jmb.2010.01.011, PMID 20064525, PMC 2830324 (freier Volltext).
  29. W. D. Jones Jr.: Phage typing report of 125 strains of "Mycobacterium tuberculosis". In: Annali Sclavo; rivista di microbiologia e di immunologia. Band 17, Nr. 4, August 1975, S. 599–604, PMID 820285.
  30. William R. Jacobs Jr.: Mycobacterium tuberculosis: a once genetically intractable organism. In: Graham F. Hatfull, William R. Jacobs Jr. (Hrsg.): Molecular Genetics of the Mycobacteria, S. 1–16. Washington, DC: ASM Press, 2020
  31. ICTV: ICTV Taxonomy history: Mycobacterium virus TM4
  32. NCBI: Mycobacterium phage TM4 (no rank)
  33. W. R. Jacobs, M. Tuckman, B. R. Bloom: Introduction of foreign DNA into mycobacteria using a shuttle phasmid. In: Nature. Band 327, Nr. 6122, 11. Juni 1987, S. 532–535, doi:10.1038/327532a0, PMID 3473289, bibcode:1987Natur.327..532J.
  34. Matthew C. Mulvey, Katherine A. Sacksteder, Leo Einck, and Carol A. Nacy: Generation of a Novel Nucleic Acid-Based Reporter System To Detect Phenotypic Susceptibility to Antibiotics in Mycobacterium tuberculosis. In: mBio. Band 3, Nr. 2, 13. März 2012, S. e00312–11, doi:10.1128/mBio.00312-11, PMID 22415006, PMC 3312217 (freier Volltext).
  35. Lia Danelishvili, Lowell S. Young, Luiz E. Bermudez: In vivo efficacy of phage therapy for Mycobacterium avium infection as delivered by a nonvirulent mycobacterium. In: Microb. Drug Resist. Band 12, Nr. 1, 3. April 2006, S. 1–6, doi:10.1089/mdr.2006.12.1, PMID 16584300.