Eroberung von Jerusalem (587/586 v. Chr.)

Kriegerisches Ereignis in der Antike, Beginn des Babylonischen Exils und Ende des Reiches Juda

Die Eroberung von Jerusalem durch das Heer des neubabylonischen Königs Nebukadnezar II. (Nabū-kudurrī-uṣur II., Regierungszeit 604–562 v. Chr.) entmachtete die Davids-Dynastie in Jerusalem und beendete die Existenz des Südreichs Juda, das zuletzt ein babylonischer Vasallenstaat gewesen war. Der Salomonische (Erste) Tempel wurde zerstört, die Jerusalemer Oberschicht teilweise deportiert. Als Jahr der Eroberung wird in der englischsprachigen Forschung 586 v. Chr. bevorzugt, während in der deutschsprachigen Literatur meist das Jahr 587 v. Chr. genannt wird.[1]

In Jerusalem gefundene eiserne und bronzene Pfeilspitzen, frühes 6. Jahrhundert v. Chr. (Israel Museum)

Die Quellenlage für diese zweite babylonische Eroberung Jerusalems ist ungünstiger als für die erste 597 v. Chr., weil die babylonische Chronik im Jahr 594 abbricht.

Vorgeschichte

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In der Endphase des Reichs Juda war die Bevölkerung Jerusalems stark gewachsen, was sich auch in über 100 nachgewiesenen späteisenzeitlichen Grabanlagen vor den Stadtmauern Jerusalems ausdrückt. Im Norden schloss sich ein unbefestigtes Siedlungsgebiet direkt an die Stadtmauern an. Ein Kranz von Großdörfern umgab mit seinem landwirtschaftlich genutzten Gebiet die ganze Stadt. Mehrere vorgeschobene Festungen markierten die Grenzen dieses Jerusalemer Siedlungsgebiets.[2]

Zidkija als babylonischer Vasallenkönig

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Liste von Lebensmittelrationen für Jojachin von Juda und sein Gefolge (Tontafelfragment, Fundort Babylon, Vorderasiatisches Museum Berlin)[3]

Die babylonische Chronik hebt als zentrales Ereignis des Palästina-Feldzugs Nebukadnezars die Eroberung Jerusalems im Jahr 597 v. Chr. hervor. Während der Belagerung starb König Jojakim, der im Vertrauen auf ägyptische Hilfe seine Tributzahlungen an Babylon eingestellt hatte. Sein Sohn und Nachfolger Jojachin unterwarf sich den Babyloniern und rettete dadurch den Bestand seines kleinen Königtums. Die Babylonier plünderten zwar die Stadt und nahmen viele Gefangene, aber sie beließen die Davids-Dynastie an der Macht und verzichteten auf die Zerstörung Jerusalems. Nebukadnezar setzte Jojachin ab und installierte dessen Onkel Mattanja auf dem Jerusalemer Thron, welcher sich nun Zidkija nannte. Zidkija musste einen Vasalleneid leisten.[4]

Aus babylonischer Sicht war diese Regelung geeignet, um das Reich Juda in einem stabilen Untertanenverhältnis zu halten: das Land war zwar wirtschaftlich sehr geschwächt, aber die Verwaltungsstrukturen noch intakt; König Zidkija wusste, wem er seine Königswürde verdankte; dass sein Neffe Jojachin im babylonischen Exil lebte, stellte ein zusätzliches Druckmittel dar.[5] Für eine Gruppe von Exilierten, darunter auch der Prophet Ezechiel, war Jojachin weiter der einzig legitime König von Juda und Zidkija ein bloßer „Statthalter“ (Ez 17,11–15 LUT). Ein Teil der Bevölkerung Judas hoffte auf die Rückkehr Jojachins nach Jerusalem (Jer 28,1–4 LUT). Dies schwächte die Position Zidkijas, zumal er als „Konkursverwalter seines Bruders Jojachin“ (Herbert Donner) großen wirtschaftlichen Problemen gegenüberstand und Schwierigkeiten hatte, die mit Jojachin nach Babel deportierten Jerusalemer Spitzenbeamten durch geeignete Personen zu ersetzen.[6]

Ab 596 lockerte sich die babylonische Kontrolle über das Land Hattû. Zunächst war Nebukadnezar durch Feldzüge an der Ostgrenze seines Reichs gebunden, dann musste er eine Revolte in Babylon niederschlagen, an der hohe Militärangehörige beteiligt waren. Unterdessen regierte Psammetich II. über Ägypten und führte 593 in Nubien einen erfolgreichen Feldzug durch. Ein Jahr später leitete er eine Expedition an der Küste Phöniziens. Oded Lipschits vermutet, dass Psammetich daran interessiert war, die ägyptische Vorherrschaft in der Levante zu erneuern. Die Kleinkönige in der Region gingen antibabylonische Bündnisse ein, was im Hintergrund von Ägypten gefördert worden sei.[7] Wolfgang Helck versteht Psammetichs Expedition geradezu als zweijährigen Feldzug,[8] andererseits wird gefragt, ob diese Expedition überhaupt militärischen oder eher diplomatischen und kultischen Charakter hatte. Eine Reaktion der Neubabylonier darauf ist jedenfalls nicht bekannt.

Im Februar 589 trat Pharao Apries seine Herrschaft über Ägypten an, und etwa zeitgleich änderte sich die babylonische Politik in Bezug auf das Land Hattû. Zug um Zug wurden die semi-autonomen Vasallenkönigreiche der Region entmachtet und in Provinzen umgewandelt, so dass die direkte babylonische Kontrolle effektiv bis an die ägyptische Grenze heranreichte.[9] Die wirtschaftlichen Folgen für die südliche Levante waren schwerwiegend. Anfang des 6. Jahrhunderts verschwindet die griechische Importkeramik fast vollständig aus dem archäologischen Befund, um erst zum Ende des Jahrhunderts (also in der Perserzeit) wieder zurückzukehren: ein Indiz dafür, dass die Region unter babylonischer Herrschaft keine Überschüsse für den Export mehr erwirtschaftete und vom Fernhandel abgeschnitten war.[10]

Zidkijas Abfall von Babylon

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Dass Zidkija sich entschloss, seine Vasallenpflichten nicht mehr zu erfüllen, war in Anbetracht seiner politisch-militärischen Schwäche extrem unklug. Am Hof gab es offenbar eine anti-babylonische Partei, die ihn dazu drängte; ob Ägypten zu diesem Zeitpunkt bereits im Hintergrund aktiv war und Unterstützung versprach oder erst später, als der Aufstand schon im Gange war, zu helfen versuchte, ist unbekannt.[11] Lipschits urteilt, dass es abgesehen von der erwarteten ägyptischen Unterstützung „ideologisch-theologische Faktoren“ gewesen seien, die die Jerusalemer Oberschicht veranlassten, den Aufstand gegen Babylonien zu wagen: Sie waren überzeugt, ihr Gott JHWH werde seine Stadt verteidigen. Jerusalem werde deshalb niemals von Feinden eingenommen werden. Es gibt Indizien dafür, dass Zidkija mit dem Stadtstaat Tyros und dem Ammoniterreich ein antibabylonisches Bündnis einging, aber militärisch waren diese Partner ohne großes Gewicht.[12]

Belagerung Jerusalems

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Foto von Lachisch-Ostrakon Nr. 3

Ab dem 15. Januar (dem 10. X. des babylonischen Kalenders) 588 belagerte ein babylonisches Heer Jerusalem. Ein ägyptischer Entsatzversuch brachte den Jerusalemern nur vorübergehend Entlastung. Die ägyptischen Hilfstruppen zogen wieder ab; Genaueres ist über ihr Ergehen nicht bekannt. Diese ägyptische Intervention ist nur durch Jer 37,5–11 LUT und Anspielungen bei Ezechiel belegt; ägyptische und babylonische Quellen schweigen.[13] Anscheinend nutzte ein Teil der Jerusalemer die zwischenzeitliche Aufhebung der Belagerung dazu, um die Stadt zu verlassen und sich den Babyloniern zu ergeben. Diese Bevölkerungsgruppe wurde mindestens teilweise im Gebiet von Benjamin, im Umland von Mizpa, angesiedelt. Jeremias Versuch, sich dieser Gruppe anzuschließen, misslang – er wurde verhaftet und blieb gegen seinen Willen in Jerusalem.[14]

Mit Ausnahme Jerusalems nahm das babylonische Heer Juda leicht ein. Nur die beiden befestigten Orte Lachisch und Aseka konnten eine Zeitlang Widerstand leisten (vgl. Jer 37,7 LUT). Die in den 1930er Jahren bei den Ausgrabungen von Tell ed-Duwēr gefundenen Lachisch-Ostraka geben einen Eindruck von der militärisch aussichtslosen Situation, in der sich die Verteidiger befanden. Aufschlussreich ist Ostrakon Nr. 3, aus dem hervorgeht, dass sich der judäische Oberbefehlshaber Konjahu ben Elnatan von Jerusalem nach Ägypten begab. Das heißt entweder, dass der Belagerungsring um Jerusalem nicht geschlossen war oder die Belagerung nachlässig gehandhabt wurde.[15]

Am 18. Juli 586 v. Chr. fiel Jerusalem.[16] Lipschits vermutet, dass die Babylonier ein Segment der nördlichen oder westlichen Stadtmauer zum Einsturz brachten und Zidkija daraufhin versuchte, mit einem Teil seines Heeres Richtung Süden aus Jerusalem zu fliehen.[17]

Gefangennahme und Bestrafung Zidkijas

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Zidkija floh in Richtung auf das Ostjordanland, wurde aber in der Gegend von Jericho eingeholt. Seine Gefolgsleute verließen ihn. Eine babylonische Patrouille nahm ihn gefangen und brachte ihn mit seinen Begleitern ins babylonische Hauptquartier nach Ribla. Dort sprach Nebukadnezar über ihn das Urteil. Er ließ Zidkijas Söhne vor dessen Augen hinrichten. Anschließend wurde Zidkija selbst geblendet und in Ketten nach Babylon gebracht, wo er bis zu seinem Tod in Gefangenschaft blieb.[18]

Diese Episode wird in der Hebräischen Bibel dreimal mit kleinen Varianten erzählt. Die älteste Fassung bietet 2 Kön 25,6–7 LUT. Jer 52,9–11 LUT ist ein Postskriptum zum Jeremiabuch, das inhaltlich 2 Kön 25,6–7 nahesteht. Abweichend wird die Hinrichtung nicht nur der Prinzen, sondern auch aller „Edlen von Juda“ berichtet. Die Parallele Jer 39,5–7 LUT fehlt in der Septuaginta und gilt daher als spätere Ergänzung des Jeremiabuchs.

Ebenso wie in assyrischen und neubabylonischen Quellen war es nach Darstellung von 2 Kön 25 Privileg des Oberherrn, das Urteil über den Gefangenen zu sprechen. Die anschließende Bestrafung wurde dem Herrscher selbst zugeordnet, auch wenn sie de facto von seinen Soldaten vollzogen wurde. Eine Ausnahme ist der Akt der Blendung: Sargon II. sticht auf einem assyrischen Relief aus seinem Palast in Dur Šarrukin (Khorsabad) einem vor ihm knienden gefesselten Gefangenen mit einem Speer die Augen aus (Raum VIII). Möglicherweise behielt sich auch Nebukadnezar in dieser Weise die Bestrafung Zidkijas vor.[19]

Zerstörung Jerusalems und des Tempels

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Aus babylonischer Sicht sollte Jerusalem als Zentrum der Rebellion eliminiert werden. Lipschits urteilt, dass die babylonische Strafaktion sich ganz auf Jerusalem konzentriert habe „und den anderen Teilen des Königreichs nur minimalen Schaden zufügte.“[20] Seraja, der oberste Priester, wurde ebenso wie Führungspersonen der Jerusalemer Priesterschaft und Verwaltung nach Ribla gebracht und dort hingerichtet; damit bekundete Nebukadnezar seinen Willen, nicht nur die Davids-Dynastie, sondern auch den offiziellen Jerusalemer Tempelkult zu beenden, was möglicherweise kultische Handlungen, zum Beispiel Trauerriten, auf dem zerstörten Tempelgelände nicht ausschloss.[21]

Etwa einen Monat wurde für die Plünderung der Stadt angesetzt. Anschließend gab Nebusaradan, der Oberste der Leibwache, den Befehl, Jerusalem völlig zu zerstören. Der Tempel wurde niedergebrannt. Eine relativ kleine Gruppe von Jerusalemern (nach Jer 52,28–32 LUT: 832 Personen, fünf Jahre später weitere 745 Menschen) wurde nach Babylonien deportiert und stieß zu der weit größeren Exiliertengruppe, die sich dort bereits seit der ersten babylonischen Eroberung Jerusalems mitsamt ihres Königs Jojachin befand.[22]

Archäologischer Befund

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Rekonstruierte Grabkammer von Ketef Hinnom (Israel Museum)

Archäologisch ist die Zeit, in der Juda direkt der neubabylonischen Herrschaft unterstand, schwer zu fassen. Denn diese Periode war kurz, die materielle Kultur war eine Fortsetzung der vorausgehenden Eisenzeit II (alternativ benannt als Eisenzeit III), und nur wenige Ausgrabungen erbrachten Befunde, die sich dieser Periode zuordnen ließen. Das wichtigste Material stammt aus dem Gebiet von Benjamin (nördlich von Jerusalem), dem Judäischen Bergland und der direkten Umgebung Jerusalems. Grabungen wurden durchgeführt in Beitin (Bethel), Tell el-Fūl, el-Jīb, Tell en-Naṣbe, Khirbet er-Ras, Mozah und Deir an-Nabi Samwīl. Bemerkenswert sind die judäischen Grabanlagen: drei im Gebiet von Benjamin und zwei (Ketef Hinnom und Mamilla) im Umland von Jerusalem.[23] Die Bestattungskontinuität bis in die persische Zeit hinein deutet auf bescheidene Siedlungen im Umland der zerstörten Stadt. Mindestens belegen sie, „dass die Lage weiterhin ‚Premium-Grundbesitz‘ für Bestattungen war.“[24]

Im Stadtgebiet von Jerusalem hat die babylonische Eroberung klare archäologische Spuren hinterlassen. Bei den Grabungen im Jüdischen Viertel der Altstadt (1969–1982) unter Leitung von Nahman Avigad wurde eine Brandschicht mit Pfeilspitzen, darunter Bronzepfeilspitzen des skythischen Typs (siehe unten) in der Nähe eines späteisenzeitlichen Turms gefunden. Kathleen Kenyons Grabungen am Osthang der Davidsstadt stellten in den 1960er Jahren zerstörte Häuser und eine zerstörte späteisenzeitliche Mauer fest. Kenyon vermutete, dass nicht ganz Jerusalem zerstört worden sei und in anderen Vierteln das städtische Leben weiterging, vielleicht sogar mit Tempelriten; doch schrieb sie in den 1960er Jahren ohne Kenntnis der späteren Ausgrabungen in Jerusalem. Besonders Yigal Shilohs Grabungen in der Davidsstadt (1978–1985) brachten Belege für die Zerstörung aller Strukturen und einen starken Brand, der das Stratum 10 in den Arealen D, E und G versiegelte. Weitere Befunde aus anderen Teilen Jerusalems verstärken das Bild, dass nach der babylonischen Eroberung für die Stadt eine Siedlungslücke bis in die mittlere persische Zeit anzunehmen ist.[25]

Sean Dugaw, Oded Lipschits und Guy D. Stiebel zufolge waren die Bogenschützen-Abteilungen der neubabylonischen Heere mit charakteristischen Pfeilspitzen ausgerüstet, die sie von ihren skythischen und medischen Verbündeten übernommen hatten. Eine Untergruppe dieser „skythischen“ Tüllen-Pfeilspitzen aus Kupferlegierung (socketed copper-alloy ‘Scythian’ arrowheads), nämlich die T1 and T1 barbed leaf-shaped trilobate types, können demnach mit Feldzügen unter Nebukadnezar II. verbunden werden. Solche Pfeilspitzen wurden in Jerusalem, Tel Goren, Tel Kabri und Tel Maḥata gefunden, Orten, die von den Babyloniern eingenommen wurden. Elf in Ramat Rachel gefundene Exemplare bestätigen, dass hier im 6. Jahrhundert eine babylonische Garnison stationiert war.[26]

Nachgeschichte

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Mizpa als administratives Zentrum

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Archäologische Stätte Tell en-Naṣbe bei Ramallah (2018)

Welche Pläne die Neubabylonier mit dem Reich Juda hatten, ist nicht genauer bekannt. Gedalja ben Ahikam, ein Spitzenbeamter am Hof Zidkijas und Mitglied der Schafan-Familie, wurde von ihnen damit beauftragt, wieder geordnete Verhältnisse herzustellen. Die Schafan-Familie wird ebenso wie der Prophet Jeremia oft einer pro-babylonischen Gruppe in der Jerusalemer Oberschicht zugeordnet; nach Lipschits war sie aber nicht durch Sympathien mit den Babyloniern gekennzeichnet, sondern durch ihren Widerstand gegen die „Aktivisten“ am Hof, die im Vertrauen auf Ägypten eine für das kleine Königreich sehr riskante Außenpolitik betrieben.[27]

Da das zerstörte Jerusalem als Verwaltungszentrum nicht geeignet war, bezog Gedalja mit einem teils judäischen, teils babylonischen Gefolge sein Quartier in Mizpa (Tell en-Naṣbe). Nach Lipschits war Mizpa bereits der Kern einer Ansiedlung von Judäern, die zur Kooperation mit den Babyloniern bereit waren. Gleich nach seiner Befreiung aus Jerusalemer Haft ließ sich auch Jeremia in Mizpa nieder. Gedalja war aber nur rund sieben Wochen im Amt; die einzige Maßnahme, die von ihm berichtet wird, ist, dass er die Überlebenden zum Einbringen der Ernte aufforderte und so eine Rückkehr zur Normalität einleitete.[28]

In Mizpa ermordete eine radikal antibabylonische Gruppe um Ismael ben Netanja, einen Angehörigen der Davids-Dynastie, Gedalja und seine Mitarbeiter. Nach Lipschits kennzeichnete es diese Gruppe, dass sie keinen Nicht-Davididen als Statthalter akzeptierte und dass sie die Belagerung Jerusalems nicht selbst miterlebt, sondern von Ammon im Ostjordanland aus wahrgenommen hatte.[29] Die Attentäter flohen nach Ägypten. Die Einwohnerschaft Mizpas schloss sich ihnen aus Furcht vor der zu erwartenden babylonischen Vergeltung an. Der Prophet Jeremia musste gegen seinen Willen mit nach Ägypten auswandern.[30]

Martin Noth vermutete in seiner viel rezipierten Geschichte Israels (1954), dass Juda als Subprovinz Samarien zugeschlagen wurde, auch wenn vielleicht für den ermordeten Gedalja ein Nachfolger eingesetzt worden sei: „Als selbständige Provinz wurde das kleine Juda wohl überhaupt nicht konstituiert; es wurde wahrscheinlich der benachbarten Provinz Samaria angegliedert, so daß der Judäer an seiner Spitze nur ein Untergebener des Statthalters von Samaria war, ein Unterstatthalter mit begrenzten Rechten …“[31]

Demografischer und wirtschaftlicher Niedergang

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Dass das Gebiet von Juda nach der Wegführung der Exilierten ein „leeres Land“ gewesen sei, ist ein literarisches Motiv, das in der Hebräischen Bibel mehrfach begegnet. In der älteren Literatur wurde Juda im 6. Jahrhundert v. Chr. deshalb vielfach als Periode mit niedriger Bevölkerungsdichte und daniederliegender Wirtschaft gekennzeichnet. Im Widerspruch hierzu vertrat Hans Magnus Barstad 1996 die These, dass die Exilierung demographisch nicht ins Gewicht gefallen sei und das Leben vor allem auf dem Lande auch nach der babylonischen Eroberung Jerusalems weitgehend wie früher verlaufen sei. Etwas moderater als Barstad betonten Oded Lipschits, Joseph Blenkinsopp und andere in den 2000erJahren die Kontinuität der babylonischen Provinz mit der Spätphase des Reichs Juda. Nur die urbanen Zentren seien von den Babyloniern zerstört worden; das (archäologisch schwer fassbare) Leben der Landbevölkerung sei davon wenig betroffen gewesen. Avi Faust argumentiert dagegen 2012 mit Verweis auf das Fehlen griechischer Importkeramik, Palästina sei „einfach auf der Landkarte des florierenden Mittelmeerhandels im 6. Jahrhundert ausgewischt“ worden. Die Zäsur sei in diesem Fall der Beginn der neubabylonischen Epoche, nicht erst der Palästina-Feldzug Nebukadnezars.[32] Im phönizischen Fernhandel ging die Führungsrolle von Tyros, das die Babylonier belagert und zerstört hatten, auf das nordafrikanische Karthago über.

Für die Eisenzeit II kennzeichnende Strukturen, das Vierraumhaus und der judäische Grabanlagentyp, wurden zwar zunächst weitergenutzt, kamen aber im 6. Jahrhundert allmählich außer Gebrauch. Faust vermutet hinter diesem Wandel im archäologischen Befund tiefgreifende soziale und kulturelle Veränderungen. Es ist Konsens, dass die Perserzeit einen Tiefpunkt der Siedlungs- und Bevölkerungsdichte Palästinas markiert, von dem sich die Region nur langsam erholte, um in der hellenistischen Zeit (2. Jahrhundert v. Chr.) wieder den Stand der Eisenzeit II zu erreichen. Faust kennzeichnet die Bevölkerung des ehemaligen Reichs Juda sowie der Küstenebene deshalb mit einer Formulierung von Joseph Tainter als eine „kollabierte Gesellschaft“ (post-collapse society). Mit Tainter lasse sich festhalten: wenn die Verwaltung in den urbanen Zentren zusammenbricht, reißt sie die ländlichen Regionen mit sich, denn letztere sind wirtschaftlich nicht eigenständig. Weniger die Exilierung als Hunger und Seuchen, Folgen des babylonischen Feldzugs, verursachten den Bevölkerungsverlust. Durch den Zusammenbruch des Handels war die teilweise auf ein Produkt spezialisierte Landwirtschaft nicht mehr einträglich. Die kärglichen Lebensbedingungen nach der Zerstörung Jerusalems lassen sich laut Faust durch die archäologischen Befunde von Khirbet Abu Tuwein[33] veranschaulichen, wo die überlebende Restbevölkerung eine alte Befestigungsanlage für ihre Zwecke umnutzte. Über ein großes Gebiet verteilt, fanden sich demnach einige tausend Überlebende erst allmählich wieder zu Kleingruppen und Gesellschaften zusammen und entwickelten langsam wieder Bräuche und Traditionen, die nur bedingt die Eisenzeit II fortführten.[34]

Gedenken

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Jeremia beklagt die Zerstörung Jerusalems (Rembrandt van Rijn, 1630)

Dass zur Erinnerung an die Zerstörung Jerusalems und des Tempels gefastet wurde, erwähnt Sach 8,19 LUT. Im heutigen jüdischen Kalender erinnern vier Fasttage an Ereignisse im Kontext der Eroberung Jerusalems 587 (586) v. Chr.:[35]

  • 10. Tevet (Assara beTevet): Das babylonische Heer beginnt die Belagerung Jerusalems;
  • 17. Tammus (Schiwa Assar beTammus): Die Babylonier schlagen eine Bresche in die Stadtmauer;
  • 9. Av (Tischa beAv): Die Babylonier brennen den Tempel nieder;
  • 3. Tischri (Zom Gedalja): Ermordung des Statthalters Gedalja.

Literatur

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Monographien

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  • Hans Magnus Barstad: The Myth of the Empty Land: A Study in the History and Archaeology of Judah during the “Exilic” Period (= Symbolae Osloensis Fasc. Suppl.28.). Scandinavian University Press, Oslo 1996.
  • Shelley L. Birdsong: The Last King(s) of Judah: Zedekiah and Sedekias in the Hebrew and Old Greek versions of Jeremiah 37(44):1-40(47):6 (= Forschungen zum Alten Testament/2, Band 89). Mohr Siebeck, Tübingen 2017.
  • Ernst Axel Knauf, Hermann Michael Niemann: Geschichte Israels und Judas im Altertum. De Gruyter, Berlin/Boston 2021.
  • Oded Lipschits: The Fall and Rise of Jerusalem: Judah under Babylonian Rule. Eisenbrauns, Winona Lake 2005.
  • David Steven Vanderhooft: The Neo-Babylonian Empire and Babylon in the Latter Prophets (= Harvard Semitic Monographs, Band 59). Scholars Press, Atlanta 1999.
  • Sonja Ammann: Der zerbrochene Spiegel: Die babylonische Eroberung Jerusalems als kulturelles Trauma (= Studies in Cultural Contexts of the Bible, Band 9). Brill Schöningh, Paderborn 2024.
  • Rainer Albertz: Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels 587 v. Chr. Historische Einordnung und religionspolitische Bedeutung. In: Johannes Hahn (Hrsg.): Zerstörungen des Jerusalemer Tempels. Geschehen – Wahrnehmung – Bewältigung (= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, Band 147). Mohr Siebeck, Tübingen 2002, S. 23–39.
  • Elias Auerbach: Wann eroberte Nebukadnezar Jerusalem? In: Vetus Testamentum 11/2 (1961), S. 128–136.
  • Joseph Blenkinsopp: The Bible, Archaeology and Politics: or The Empty Land Revisited. In: Journal for the Study of the Old Testament, Band 27 (2002), S. 169–187.
  • Charles E. Carter: Ideology and Archaology in the Neo-Babylonian Period: Excavating Text and Tell. In: Oded Lipschits, Joseph Blenkinsopp (Hrsg.): Judah and the Judeans in the Neo-Babylonian Period. Eisenbrauns, Winona Lake 2003, S. 301–322.
  • Benedikt Josef Collinet: Die letzten Könige von Juda: Eine narratologische und intertextuelle Lektüre von 2 Kön 23,30–25,30. V&R unipress, Göttingen 2019.
  • Avi Faust: Judah in the Neo-Babylonian Period: The Archaeology of Desolation (= Archaeology and Biblical Studies, Band 18). SBL Press, Atlanta 2012.
  • Erasmus Gaß: Nebukadnezzar ante portas: Zu den babylonischen Interessen in der südlichen Levante. In: Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft, Band 129 (2016), S. 247–266.
  • Shuichi Hasegawa: Wer hat die Söhne Zidkijas getötet? Altorientalische Königsideologie und die Schilderung der Hinrichtung von Rebellen (2 Kön 25,6-7; Jer 52,9-11). In: Biblische Notizen, Band 194 (2022), S. 45–62.
  • Ernst Kutsch: Das Jahr der Katastrophe: 587 v. Chr. Kritische Erwägungen zu neueren chronologischen Versuchen. In: Biblica 55/4 (1974), S. 520–545.
  • Abraham Malamat: The Last Kings of Judah and the Fall of Jerusalem. In: Israel Exploration Journal, Band 18 (1968), S. 137–156.
  • Juha Pakkala: Gedaliah’s murder in 2 Kings 25:25 and Jeremiah 41:1-3. In: Anssi Voitila, Jutta Jokiranta (Hrsg.): Scripture in Transition: Essays on Septuagint, Hebrew Bible, and Dead Sea Scrolls in Honour of Raija Sollamo (= Supplements to the Journal for the Study of Judaism, Band 126). Brill, Leiden 2008, S. 401–411.
  • John Ritzema: After Zedekiah: Who and What was Gedaliah ben Ahikam? In: Journal for the Study of the Old Testament, Band 42 (2017), S. 73–91.
  • Henk de Waard: The Dates of the 587/6 BCE Capture and Destruction of Jerusalem. In: Textus, Band 29 (2020), S. 1–7.
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Anmerkungen

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  1. Ernst Axel Knauf, Hermann Michael Niemann: Geschichte Israels und Judas im Altertum, Berlin/Boston 2021, S. 300.
  2. Oded Lipschits: The Fall and Rise of Jerusalem: Judah under Babylonian Rule, Winona Lake 2005, S. 206–210.
  3. Staatliche Museen zu Berlin, Sammlungen Online: Rationsliste für Gefangene mit Erwähnung des Königs Jojachin von Juda
  4. Abraham Malamat: The Last Kings of Judah and the Fall of Jerusalem, 1968, S. 145.
  5. Oded Lipschits: The Fall and Rise of Jerusalem: Judah under Babylonian Rule, Winona Lake 2005, S. 49–59.
  6. Herbert Donner: Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen, Band 2. 3., durchgesehene und ergänzte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, S. 408.
  7. Oded Lipschits: The Fall and Rise of Jerusalem: Judah under Babylonian Rule, Winona Lake 2005, S. 62–64.
  8. Wolfgang Helck: Geschichte des alten Ägypten, Band 1. Brill, Leiden 1968, S. 254.
  9. Oded Lipschits: The Fall and Rise of Jerusalem: Judah under Babylonian Rule, Winona Lake 2005, S. 66.
  10. Erasmus Gaß: Nebukadnezzar ante portas: Zu den babylonischen Interessen in der südlichen Levante, 2016, S. 255–257.
  11. Herbert Donner: Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen, Band 2. 3., durchgesehene und ergänzte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, S. 410.
  12. Oded Lipschits: The Fall and Rise of Jerusalem: Judah under Babylonian Rule, Winona Lake 2005, S. 70–72.
  13. Vgl. die Datierungsversuche bei Abraham Malamat: The Last Kings of Judah and the Fall of Jerusalem, 1968, S. 152: die ägyptische Unterstützung dauerte vom Spätwinter bis zum Frühjahr 587 v. Chr., also ein Jahr nach Beginn der Belagerung und 1 1/4 Jahre vor dem (von ihm auf 586 datierten) Fall der Stadt.
  14. Oded Lipschits: The Fall and Rise of Jerusalem: Judah under Babylonian Rule, Winona Lake 2005, S. 76 f.
  15. Herbert Donner: Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen, Band 2. 3., durchgesehene und ergänzte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, S. 411.
  16. Ernst Axel Knauf, Hermann Michael Niemann: Geschichte Israels und Judas im Altertum, Berlin/Boston 2021, S. 300.
  17. Oded Lipschits: The Fall and Rise of Jerusalem: Judah under Babylonian Rule, Winona Lake 2005, S. 78.
  18. Herbert Donner: Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen, Band 2. 3., durchgesehene und ergänzte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, S. 411 f.
  19. Shuichi Hasegawa: Wer hat die Söhne Zidkijas getötet? Altorientalische Königsideologie und die Schilderung der Hinrichtung von Rebellen (2 Kön 25,6-7; Jer 52,9-11), 2022, S. 49 und 58.
  20. Oded Lipschits: The Fall and Rise of Jerusalem: Judah under Babylonian Rule, Winona Lake 2005, S. 84.
  21. Oded Lipschits: The Fall and Rise of Jerusalem: Judah under Babylonian Rule, Winona Lake 2005, S. 116.
  22. Herbert Donner: Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen, Band 2. 3., durchgesehene und ergänzte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, S. 412.
  23. Charles E. Carter: Ideology and Archaology in the Neo-Babylonian Period: Excavating Text and Tell, Winona Lake 2003, S. 306 f.
  24. Charles E. Carter: Ideology and Archaology in the Neo-Babylonian Period: Excavating Text and Tell, Winona Lake 2003, S. 310.
  25. Oded Lipschits: The Fall and Rise of Jerusalem: Judah under Babylonian Rule, Winona Lake 2005, S. 210 f.
  26. Sean Dugaw, Oded Lipschits, Guy D. Stiebel: A New Typology of Arrowheads from the Late Iron Age and Persian Period and Its Historical Implications. In: Israel Exploration Journal, Band 70 (2020), S. 64–89, besonders S. 81 f.
  27. Oded Lipschits: The Fall and Rise of Jerusalem: Judah under Babylonian Rule, Winona Lake 2005, S. 85 f.
  28. Oded Lipschits: The Fall and Rise of Jerusalem: Judah under Babylonian Rule, Winona Lake 2005, S. 94–102.
  29. Oded Lipschits: The Fall and Rise of Jerusalem: Judah under Babylonian Rule, Winona Lake 2005, S. 118.
  30. Herbert Donner: Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen, Band 2. 3., durchgesehene und ergänzte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, S. 412 f.
  31. Martin Noth: Geschichte Israels. 2., verbesserte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1954, S. 261. Zur Rezeption vgl. beispielsweise Jacob M. Myers: Ezra–Nehemiah. Doubleday, New York 1965, S. xx f.: „Nach der Entfernung Gedaljas, Gouverneur dessen, was eine babylonische Provinz werden sollte, wurde das Gebiet Judas rings um Jerusalem ein Teil der Provinz Samaria, vielleicht zunächst inoffiziell.“
  32. Avi Faust: Judah in the Neo-Babylonian Period: The Archaeology of Desolation, Atlanta 2012, S. 245.
  33. Vgl. Matthew Suriano: Abu Tuwein, Khirbet. In: Encyclopedia of the Bible and Its Reception (EBR). Band 1, De Gruyter, Berlin/Boston 2009, ISBN 978-3-11-018355-9, Sp. 257.
  34. Avi Faust: Judah in the Neo-Babylonian Period: The Archaeology of Desolation, Atlanta 2012, S. 247–249.
  35. Israel Meir Lau: Wie Juden leben: Glaube – Alltag – Feste. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1988, S. 224.