Agnes (Roman)

Roman von Peter Stamm

Agnes ist ein 1998 erschienener Roman von Peter Stamm. Erzählt wird der Beginn, die Entwicklung und das Ende einer Liebesgeschichte zwischen einem namentlich nicht genannten Ich-Erzähler und Agnes, einer jüngeren Physikerin.

Thematik und Metaphorik

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Der in 36 kurze Kapitel gegliederte Roman behandelt – häufig in symbolischer oder metaphorischer Form – die Themen von Liebe und Selbstliebe (der Erzähler, Agnes und das Kind), von Leben und Tod (Symmetrie und Asymmetrie), Verantwortung, Fürsorge und Freiheit (der Pullman-Streik) und das Verhältnis zwischen Nähe und Fremdheit. Die Beziehung des nicht mehr ganz jungen Erzählers zur 25-jährigen Agnes wird in einem nüchternen und lakonisch-distanzierten Stil erzählt.

In den Figuren des Erzählers und Agnes’ werden unterschiedliche Haltungen und Weltanschauungen deutlich, die von einer Textur des Scheiterns bestimmt sind: Die Dialoge kommen wiederholt auf den Tod und seine Formen zurück,[1] die Figur der Seltsamkeit oder Fremdheit des anderen, die sich mit der Dauer der Beziehung steigert, wird fast zwei Dutzend Mal verwendet. Ebenso klingen die Topoi der Epitaphe (zum Beispiel wird Stonehenge erwähnt)[2] und des absehbaren oder vorzeitigen Endes oder des Ausbruchs aus einer Beziehung sowohl im mehrfachen Verschütten von Kaffee und Tee[3] als auch im Abgang von Agnes’ Fötus[4] an. Es treten z. B. an den prominenten Positionen des Anfangs und Endes die Bilder der leeren Ebene und der Wanderung auf und werden die ganze Erzählung hindurch variiert,[5] zum Beispiel als Aufgeben einer Siedlung infolge ökonomischer Zwänge, als Umherstreifen nach einem Streit – und dominant als Beschäftigung des Erzählers mit Luxuseisenbahnwagen, die die Trennung und das Reisen als Thema in den Figurenhorizont hereinholt: Die Figuren trennen sich nicht nur, sondern reflektieren es auch allegorisch.

Erzählstrategien

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Die Erzählung wird von strategischen Entscheidungen bestimmt, die mehrere Bauformen aus dem narrativen Werkzeugkasten kombinieren:

Eine erste Erzählstrategie wird durch den Typ des Anfangs in medias res festgelegt: Indem die ersten beiden Sätze nicht nur das Ende vorwegnehmen („Agnes ist tot.“), sondern auch die Basiserklärung liefern („Eine Geschichte hat sie getötet.“), ist die Konstruktion der Erzählung nicht mehr ergebnisoffen, sondern läuft teleologisch auf den genannten Endpunkt zu. Die Ereignisse werden kausal und chronologisch diesem Ziel untergeordnet und der durch 36 kurze Kapitel interpunktierte Ereignisverlauf legt eine Zwangsläufigkeit nahe, die zunächst dunkel bleibt: „Die Geschichte wird immer enger, wie ein Trichter“, kommentiert der namenlose Ich-Erzähler eine kurze literarische Skizze von Agnes[6] – und benennt damit zugleich das dominierende narrative Prinzip seiner eigenen Rahmenerzählung.[7]

Eine zweite Strategie ist die Ausrichtung des Figurenhandelns an einem Verhaltensmuster oder Skript, welches letztlich das Scheitern ihrer Beziehung bewirkt. Agnes’ Angst vor dem Verlust ihrer Freiheit ist auch die Angst des Ich-Erzählers vor dem Verlust seiner Freiheit – und je mehr sich die beiden Figuren aneinander binden, desto stärker werden notwendig die zentrifugalen Kräfte. Der Ich-Erzähler weiß, „dass es unmöglich war, unzumutbar für Agnes, unerträglich für mich.“[8] Beide Hauptfiguren handeln auf der Basis ihrer inneren, psychologischen Konfigurationen und weil diese Skripte sich so ähnlich sind, sind sie nicht kompatibel. Sie scheitern an dieser Symmetrie von Anziehung und Abstoßung, denn „es ist die Asymmetrie, die das Leben überhaupt erst ermöglicht“, wie Agnes doppeldeutig über ihr Forschungsthema und über die Erzählung bemerkt, in der sie selbst eine Figur ist.[9] Indem sie sich in ihrer Dissertation mit der Symmetrie unterschiedlicher Arten von Kristallen beschäftigt (wieder eine ‚Erzählung in der Erzählung), projiziert der Autor seine Erzählstrategie in einer wiederum ironischen Volte als wissenschaftliches Thema in die Figurenwelt.

In einer dritten Strategie lässt der Autor sein Spiel mit Handlungsdeterminanten von den Figuren selbst spielen: Wie der Ich-Erzähler schon mit dem Trichter-Vergleich die Teleologie der Erzählung benennt, so imaginiert der Autor beide Figuren stellvertretend auch als Skript-Gestalter, in deren literarischen Projekten er sich spiegelt.[10] Mit diesen Binnenerzählungen bewegt sich das Gedankenexperiment auf zwei Ebenen gleichzeitig.

Literarische Bezüge

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Der Roman Agnes greift eine Vielzahl von Motiven aus anderen literarischen Werken auf, von denen einige im Text explizit angesprochen werden.

  • Ein nicht mehr junger Mann reflektiert seine gescheiterte Vater-Tochter-Beziehung zu einer deutlich jüngeren Frau. → Max Frisch, Homo faber
  • Ein Künstler (Pygmalion) schafft eine Figur, die lebendig wird. → Ovid, Metamorphosen
  • Ein Mann behandelt eine lebendige Frau wie eine Figur, die er nach eigenem Willen beliebig gestalten kann. → George Bernard Shaw, PygmalionFrederick Loewe, My Fair Lady
  • Ein älterer Mann verurteilt eine andere, jüngere Person zum Tode; die jüngere Person führt das Urteil unverzüglich durch Suizid aus. → Franz Kafka, Das Urteil
  • Der Tod durch Erfrieren erscheint als „schöner Tod“. → Robert Walser, Geschwister Tanner
  • Eine Geschichte, in der der Protagonist Suizid begeht, führt dazu, dass Menschen sich in der Realität auf die in der Geschichte beschriebene Weise umbringen. → Werther-Effekt, Legenden um Robert Walsers „Tod im Schnee“

Stamm zur Interpretation von Agnes

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Peter Stamm lehnt es ab, Interpretationshilfen zu liefern:

„Zur Interpretation von «Agnes» kann und will ich mich nicht äußern. Sie ist nicht Aufgabe des Autors. (…) Ich denke, das beste Verständnis liefert eine genaue und unvoreingenommene Lektüre des Textes. Er bietet viele Interpretationsmöglichkeiten, keine davon ist richtig, falsch sind allenfalls jene, die an den Haaren herbeigezogen oder schlecht begründet sind oder die für sich in Anspruch nehmen, die einzig richtigen zu sein. Es gibt für das Buch keine Lösung wie für ein Kreuzworträtsel. Nicht einmal die Frage, ob Agnes am Ende des Buches tot ist oder lebt, lässt sich eindeutig beantworten. Weder von mir noch von Ihnen. Das soll Sie nicht daran hindern, darüber nachzudenken.

In jeder Interpretation steckt viel vom Interpretierenden. Es liegt auf der Hand, dass Männer ein Buch anders lesen als Frauen, Sechzehnjährige anders als Sechzigjährige. Schön wäre es, wenn diese unterschiedlichen Lesarten zu konstruktiven Diskussionen führen, die weit über die Geschichte von «Agnes» hinausführen“.[11]

Rezeption

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Der Roman gehörte zusammen mit dem Drama Dantons Tod von Georg Büchner und dem Roman Homo Faber von Max Frisch zu den Pflichtlektüren für das Abitur 2013–2018 an beruflichen, sowie für das Abitur 2014–2018 an allgemeinbildenden Gymnasien in Baden-Württemberg.[12]

Verfilmung

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Die Verfilmung des Romans mit dem Titel Agnes kam am 2. Juni 2016 in die Kinos. In den Hauptrollen sind Odine Johne als Agnes und Stephan Kampwirth als der Ich-Erzähler, der im Film Walter heißt.[13]

Ausgaben

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Agnes. Roman. München: Goldmann 2000. Goldmann Taschenbuch (btb 72550). ISBN 3-442-72550-X
Agnes. Roman. Fischer, Frankfurt am Main 2009. Fischer Taschenbuch. ISBN 978-3-596-17912-1
Peter Stamm: Agnes. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2012, S. 153.
Agnes. Hörbuch:.Sprecher: Christian Brückner. 3 CDs. Parlando, Berlin 2016. ISBN 978-3-941004-83-2

Literatur

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  • Birgit Schmid: Die literarische Identität des Drehbuchs. Untersucht am Fallbeispiel „Agnes“ von Peter Stamm (= Diss. Zürich 2003). Lang, Bern 2004, ISBN 978-3-03910-246-4.
  • Magret Möckel: Königs Erläuterungen zu Peter Stamms „Agnes“. Bange, Hollfeld 5. A. 2015, ISBN 978-3-8044-1952-0.
  • Wolfgang Pütz: Peter Stamm, Agnes. Lektüreschlüssel für Schülerinnen und Schüler. Reclam, Stuttgart 2017, ISBN 978-3-15-015455-7.
  • Johannes Wahl: Peter Stamm, Agnes. Klett Lerntraining Lektürenhilfen, Stuttgart 2017, ISBN 978-3-12-923124-1.
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Einzelnachweise

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  1. Peter Stamm: Agnes, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2012, S. 9, 11, 22 ff., 26 f., 31 ff. 78, 81, 130 f., 152.
  2. Peter Stamm: Agnes. 2012, S. 31 ff., 70 ff., 77.
  3. Peter Stamm: Agnes. 2012, S. 15, 17, 19, 80.
  4. Peter Stamm: Agnes. 2012, S. 111 ff.
  5. Peter Stamm: Agnes. 2012, S. 10, 13, 32, 34, 70 ff., 91 ff., 153.
  6. Peter Stamm: Agnes. 2012, S. 43.
  7. Da der Autor durch den Erzähler spricht, könnte der Sprung in medias res („Eine Geschichte hat sie getötet.“) auch als selbstironischer Kommentar des Autors gelesen werden: immerhin ist ja er es, der Agnes sterben lässt.
  8. Peter Stamm: Agnes. 2012, S. 133.
  9. Peter Stamm: Agnes. 2012, S. 45.
  10. Peter Stamm: Agnes. 2012, S. 62 ff., 68, 119,139.
  11. Peter Stamm: Agnes. 2012
  12. Abitur. Abgerufen am 29. März 2018.
  13. http://www.moviepilot.de/movies/agnes--2?filter=all